Die Arbeit mit Gruppen ist für Supervisor_innen und Berater_innen von besonderer Bedeutung. Wir alle bewegen uns unweigerlich tagtäglich in Gruppen und sind ein Teil der damit einhergehenden Dynamik. Der österreichische Psychoanalytiker Raoul Schindler beschäftigte sich mit der Gruppe im Sinne eines psychologischen Phänomens, dass „wegen seines dynamischen Charakters schwer zu beobachten (ist) (…).“ (Schindler, 2016).
In seinem Modell der Rangdynamik identifiziert er vier verschiedene Positionen, die sich in jeder Gruppe herausbilden und in Beziehung zueinander stehen: die Alpha-, die Beta-, die Gamma- und die Omega-Position. Oft hat man von diesen Positionen gehört bzw. gelesen, daher bietet es sich an diese eingehender zu betrachten, um zu verstehen, was genau damit gemeint ist.
Alpha ist von Schindler ausgehend als der Repräsentant der Gruppe nach außen zu betrachten. Die Alpha-Position stellt also die Führungsposition der Gruppe dar. Alpha ist unabhängig und verhält sich autark, denn die Ziele der Gruppe und die Ziele des Alpha sind deckungsgleich. Wichtig ist, dass Alpha mit der Gruppe im Sinne eines geteilten Schicksals verbunden ist. „Sein Erfolg oder Misserfolg gilt dann für die gesamte Gruppe“ (Schindler, 2016). Falls Alpha seine Position festigen muss, nutzt er dafür die Schicksalsverbundenheit und betont die gemeinsamen Elemente, die die Gruppenmitglieder miteinander verbinden. Ein solch verbindendes Element ist z.B. die Sprache. Eine weitere Möglichkeit die Schicksalsverbundenheit zu unterstreichen bieten Rituale. „Der Schwur des Staatsoberhaupts auf die Verfassung ist beispielweise ein symbolischer Akt der Sinnrichtung“ (Schindler, 2016). Das, was Alpha zu sagen hat, wird in der Regel als berechtigt empfunden (vgl. Schindler, 2016). Alpha präsentiert sich den Mitgliedern gegenüber als imposant und mächtig und wird in seinem Tun unterstützt und bestärkt, da sein Verhalten eine Machtpräsentation der Macht der Gruppe darstellt
Beta nimmt eine besondere Position ein. Er ist derjenige, der über Expertenwissen verfügt. Er kennt sich hinsichtlich der Interessen der Gruppe aus. Die Aufgabe des Beta ist es, die Gruppe zu beraten, und zwar im Sinne einer sachlichen Anleitung, im Gegensatz zum Alpha ist es also seine Aufgabe mittels Argumenten zu überzeugen. Er steht also für den Sachverstand des Experten. Er ist der Spezialist, der sich nicht aus sich selbst heraus, sondern durch seine Taten legitimiert (vgl. Schindler, 2016). Das, was Beta zu sagen hat, wird in der Regel als interessant empfunden. Die Beta-Position ist insofern besonders, da Beta über ein höheres Maß an Unabhängigkeit verfügt als Alpha. Die bei Alpha beschriebene Schicksalsverbundenheit trifft für Beta nicht zu. Als Experte darf er eine besondere Stellung einnehmen. Seine Sprache muss nicht die selbe Sprache wie die der Gruppe sein und er darf auch mal über die Eigenarten der Gruppe schmunzeln (vgl. Schindler, 2016). „Seine Bindung an die Gruppe ist eigentlich eine indirekte, sie verläuft über Alpha. Beta hat zudem Potential selbst einmal Alpha zu werden und Gegengruppierungen zu bilden, da er als Experte und guter Redner anerkannt ist und Sachkompetenz ausstrahlt. In diesem Sinne kann der Beta auch zum Konkurrenten des Alpha werden (vgl. Schindler, 2016).
Die Gamma-Position spiegelt sich im Kollektiv wider bzw. ist ein Teil des Kollektivs. Gamma ist ein Mitglied der Gruppe, und zwar eines von vielen. Die Individualität tritt in den Hintergrund. In der Gamma-Position wird die Tendenz des Menschen zur sozialen Erwünschtheit reflektiert und Gamma geht als anonymes Mitglied in der Gruppe auf. Das, was Gamma zu sagen hat, wird in der Regel als mühevoll empfunden (vgl. Schindler, 2016). Als ein gutes Beispiel für das Individuum, welches in der Gruppe aufgeht, empfinde ich die Szene des Films „Das Leben des Brian“, in der Brian am Fenster steht und zu einer Gruppe von Menschen spricht, die ihm eine Führungsposition zuschreibt und sich wünscht von ihm angeleitet zu werden. Er ist an dieser Führungsrolle nicht interessiert und versucht die Gammas an ihre Individualität und ihre Fähigkeit zum eigenständigen Denken zu erinnern, indem er folgende Frage stellt: „Ihr seid doch alle Individuen?“ und die Menge antwortet wie aus einem Mund: „Ja, wir sind alle Individuen.“ Brian sagt weiter: „Und ihr seid alle völlig verschiedenen“ und die Gruppe der Gammas erwidert: „Ja, wir sind alle völlig verschieden“. Nur einer äußert sich anders und entgegnet: „Ich nicht“. Woraufhin die anderen ihn durch ein sehr schroffes „Sch“ zum Verstummen bringen, da schließlich niemand „aus der Reihe“ und somit aus der Anonymität heraustreten soll (Jones, 1979, 01:07:00).
Die Omega-Position ist eine besonders spannende Position, da sie das Andere, also das Oppositionelle in der Gruppe repräsentiert. In diesem Sinne steht Omega dem Gegner bzw. Feind der Gruppe viel näher als der Gruppe selbst. Er bewegt sich viel mehr am Gruppenrand und richtet seine Aggressionen gegen Alpha. Laut Schindler ist „(…) der Gruppenneue wie auch der Unterbegabte oder Ängstlich-Unsichere für sie (diese Rangposition) disponiert“ (Schindler, 2016). Dabei sollte allerdings nicht verkannt werden, dass Omega zwar häufig zum Prügelknaben oder Sündenbock der Gruppe gemacht wird und eine unsichere Person für diese Position prädestiniert zu sein scheint, gleichzeitig braucht Omega viel Kraft und Stärke, um an den Wiederständen der Gruppe nicht zu zerbrechen. Als ein Beispiel für die Omega-Position in der deutschen Geschichte ist Sophie Scholl zu nennen, die es gewagt hatte, sich gegen das Nazi-Regime zu stellen und für ihre Überzeugung sogar den eigenen Tod in Kauf nahm. Sie wurde zur Repräsentantin des Feindes in der Gruppe der Nationalsozialisten und ein Symbol für den Wiederstand gegen ein menschenverachtendes Regime.